Kann man zu sehr lieben?

oder: überfordern wir Wechselkinder mit all unseren angesparten Gefühlen?

Start des Wechselmodells, nach so vielen Wochen nur Mama und Mogli, es kommt einem Schock gleich.

Und auch wenn wir nach einigen Tagen schon wieder in die altgewohnten Wechselmodell-Abfolgen rutschen, bemerke ich doch sehr deutlich, wie unterschiedlich sich dies anfühlt im Gegensatz zu all den Wechselmodell-Jahren zuvor.

Jede Woche wechseln wir also wieder in eine andere Welt – in der Mamawoche Halligalli, in der anderen Woche: mehr Ruhe. Zeit zum Aufladen, aufarbeiten, aufräumen, Sport machen, Freunde treffen, ein bisschen Langeweile und auch vermissen.

Der Wechseltag selbst und der letzte Tag davor sind geprägt von Vorfreude und viel viel Liebe.

Endlich das Kind wieder in die Arme schließen, frisch aufgeladen, ausgeschlafen, vorgearbeitet und mit Kraft für alle Abenteuer in der neuen Woche.

Für uns Eltern ist jede Woche mit Kind eine besondere. Und für unser Kind?

„Drehen Sie nicht durch vor Freude, für Ihren Jungen sind die Wiedersehen und wöchentlichen Abschiede völlig normal, das ist sein Leben – alles nicht von aussergewöhnlichen Emotionen begleitet“, sagt der Coach.

Stimmt, denn nicht nur ich freue mich auf meine Woche, sondern der Papa kann das endlich wieder auch.

Nicht nur ich nutze die kindfreie Woche, um mich wieder zu sammeln und aufzustellen, der Papa auch. Nicht nur ich kann die Wohnung auf Klarschiff bringen, den Kühlschrank auffüllen, mir Aktivitäten für die Nachmittage überlegen und endlich die Leihbücher zurückbringen, die schon lange über der Rückgabefrist liegen, sondern der Papa auch.

Schon nach zwei Wochen laufen wir wieder völlig im Takt. Das Moglikind hüpft wieder selbstverständlich von der einen gut aufgestellten, funktionierend aufgeräumten Woche zur anderen. Und ist dabei immer von vorfreudigen, aufmerksamen, entspannten Eltern umgeben.

Für das Moglikind ist es kein Abschiedsnehmen in dem Sinne. Für ihn ist es ein Wechsel, noch dazu ein stinknormaler. Er pendelt wöchentlich und ist nie ohne Eltern, einer von uns ist immer da. Bei einem von uns ist immer sein Zimmer, bei beidem von uns sind Freunde, Schule, Sport, der Alltag weitestgehend gleich.

Bei uns Wechseleltern ist es anders: Die Liebe hat eine ganze Woche Zeit, sich aufzustauen.

Und zwar zu einem dicken Klumpen Glück, der in der anderen Woche behutsam und dezidiert über die Kinder gestreut werden möchte. Was nicht immer klappt.

Manchmal frage ich mich, ob Wechselkinder (oder auch Residenzkinder) mit größeren Massen an Elternliebe zurechtkommen müssen. Weil sie nacheinander und immer wieder komprimiert mit dieser aufgesparten Liebe umgehen müssen. Manchmal denke ich darüber nach, dass es eventuell zu viel sein könnte. Dass sie dadurch kleine egoistische Herrscherlein werden, die die Liebe Ihrer Eltern als Kalkül nutzen, um Dinge zu erkämpfen, die es in altfunktionalen Elternkonstellationen nicht so geben würde. Ich glaube, diese Möglichkeit besteht durchaus.

Denn die Mental-Load Diskussion, die viele Eltern heute einnimmt, ist bei uns nur in stark abgemilderter Form präsent

– und wenn, dann durch ungewöhnliche Vorkommnisse: einem neuen Job zum Beispiel. Klar sind die Wochen mit Kind, Arbeit, Haushalt immer sehr voll. Aber viele Dinge, die die Kinderwoche zu stark beeinträchtigen würden, können auf die kindfreien Woche verschoben werden.

In den Kinderwochen haben wir oft den Vorteil, klüger, ruhiger und ausgeglichener reagieren zu können, weil wir nicht so platt sind vom täglichen Alltag. Wir haben ja auch die nächste Woche zur Beruhigung und zum auftanken gepaart. Das im Hinterkopf zu haben ist beruhigend und bittersüss zugleich. Ich frage mich, wie Eltern damit umgehen, deren Kinder auf Internate gehen und nur am Wochenende und in den Ferien zu Hause sind. Oder wie Eltern damit klarkommen, deren Kinder aus Pflegegründen nicht mehr zu Hause betreut werden können und in speziellen Betreuungseinrichtungen leben, weil die Eltern sich sonst aufreiben würden und die Kinder wiederum nicht vollumfänglich therapeutische Zuwendung bekommen würden. Wie gehen diese Eltern mit der Sehnsucht, mit dem „zu viel Liebe geben, weil komprimiert“ um? Ist dies vom Gefühl her vergleichbar oder absolut anmaßend?

Dürfen Gefühle überhaupt verglichen werden oder sind sie immer individuell und somit richtig?

“Lieben kann man nie genug“, sagte meine Großmutter, und das ist auch verständlich, wenn man zwei Weltkriege erlebt hat und die Liebe das Einzige war, was einen leeren Magen zur Nacht trösten konnte, wenn die vielen wesentlichen Dinge rares Gut waren. Aber wie verhält es sich heute bei uns?

Für uns ist sind die Kindwochen besonders. Für das Wechselkind normaler Alltag.

Ich denke, mein Coach hat recht: ich darf mir nicht zu sehr anmerken lassen, dass mein absolutes Highlight der Woche der Freitag ist, wenn das Moglikind aus dem Schultor in meine Arme schlendert. Er soll das Gefühl haben, sehr wichtig für mich zu sein, aber eben nicht ausschließlich wichtig. Damit der Alltag noch eine Chance hat, damit er seinen Rang im sozialen Gefüge findet – und eben nicht immer ganz oben in der Wichtigkeitspyramide wandelt, sich auch mal hinten anstellen kann. Liebe zu geben darf nicht heißen, sein Wechselkind ungehemmt mit allen aufgesparten Freuden zu überschütten und es so zum Prinzenkind zu befördern.

Wir haben unserem Kind diesen Alltag kreiert, wir sollten unserem Kind nun auch die Möglichkeit geben, diesen Alltag zu (er)leben.

Ich einige mich für heute darauf, dass jeder mit seinem Gefühl absolut richtig liegt. Und ich beschließe, bei unserer Handvoll Regeln konsequent zu bleiben, trotz oder gerade wegen aller Liebe. Auch wenn mein Herz überfließt vor Freude und ich schon am Morgen unserer Mama-Woche darauf jibbele, mein Kind wieder in die Arme zu nehmen und an seinem Haar zu schnuppern. Und beim Rest, da machen wir weiterhin Ausnahmen, da gibt es eben die „Passt-schon-Momente“. Immer dann wenn ich merke, das es gerade nötig ist. Für uns oder ihn oder mich, weil es sich in der Situation gerade so schön und echt und richtig anfühlt. Denn Vorwürfe machen, die kann man sich immer. Nur Liebe geben, die kann ich nicht zu viel.

Bild: Karolina Kołodziejczak I Unsplash; Text: Mareike Milde

*Anmerkung: Ich arbeite mit Affilitate Links bei Produkten, von denen ich überzeugt bin. Der Kaufpreis bleibt für Euch derselbe, ich erhalte zusätzlich eine kleine Provision für meine Empfehlung. Damit helft Ihr mir, Wechselmama zu finanzieren. ❤️

12 Replies to “Kann man zu sehr lieben?”

  1. Liebste Wechselmama,

    Danke für die wahnsinnig tollen Texte die ich gerade mit Freude gelesen habe. Als Kind getrennt lebender Eltern möchte ich dir kurz schreiben wie es mir erging. Wir hatten zwar kein Wechselmodell, haben unseren „Vater“ allerdings alle 14 Tage sehen können. Wanderer zwischen den Welten sozusagen. All die Mama Gefühle die du (hervorragend) beschreibst, hatte ich als Kind selbstverständlich nicht. Aber ich hatte Kindergefühle und die waren so: Ich freute mich immer unglaublich, wenn wir zu meinem „Vater“ durften. Dort war eine andere Welt. Es gab anderes Abendessen, andere Freunde, andere Beschäftigungen. Nie wäre ich darauf gekommen, beide Welten miteinander zu vergleichen, ich genoss einfach beide. Ich glaube, dass wir verlernt haben mit den Augen der Kinder zu sehen, wir sind Erwachsen, haben einfach schon zu viel erlebt und befinden uns ganz oft im Egoschmerz ohne es zu merken. Weil es uns weh tut, muss es dem Kind ja ähnlich gehen. Dabei ist dem absolut nicht so. Wir denken einfach zu viel. Den Rat deines Coaches finde ich super: Gefühle nicht im Überschwang. Normalität beibehalten. Das allerschönste ist, dass ihr eurem Moglikind so viel Liebe schenkt. Herzliche Grüße deine Steph

    1. Liebe Steph,
      Danke für diesen Kommentar! Beim Lesen ist mir etwas eingefallen, was uns ein Familientherapeut beim Trennungsgespräch mitgegeben hat: ich habe laut darüber nachgedacht, wie wir den Kindern die Trennung kommunizieren, damit kein „bad cop – bad cop“-Gedanke bei ihnen aufkommt. Dazu der Therapeut: in solchen Kategorien denken Ihre Kinder in dieser Situation von sich aus nicht (die Kinder waren damals 5 und 8). Das hat mir einen wichtigen Anstoß gegeben, Dinge nicht aus meiner Perspektive zu „überdenken“, genau wie Du schreibst. (Hatte andererseits den Nachteil, dass meine Kinder unbekümmert und fröhlich von Erlebnissen mit der neuen Partnerin meines Ex erzähltem, weil ihnen gar nicht bewusst war, dass mich das verletzen könnte…tja, so viel zu offener Kommunikation ;-). Kurzfristig „Autsch“, langfristig war es mir jedoch wichtiger, dass sie sich in ihrem Mitteilungsbedürfnis mir gegenüber nicht eingeschränkt fühlen.)

      1. Das ist ein wunderbar hilfreicher Tipp, liebe Jule, ich freue mich dass du diesen hier mit uns teilst und somit die Gedanken von Steph aufgreifst und bestätigst. Ich finde es sehr schwer, dies am Anfang genau so hinzubekommen – habe es aber auch geschafft mit etlicher Kraft. Schön dass es auch dir gelungen ist. Alles Liebe! Deine Mareike

  2. Ich bin verliebt in deine Schreibe, Wechselmama. Danke für deine gedankenvollen Worte und die liebevolle Weise, wie du dein Lehren und Erfahrungen mit uns teilst. Kai-Uwe

  3. Die Bedeutung, Prägung und der Ausdruck von Liebe in unterschiedlichen Elternkonstellationen…jaja, wohl dem, der seine Gefühle im Griff hat.

  4. Welch berührende Reflektion über die Herausforderung des Wechselmodells und die Liebe zu den eigenen Kindern!Danke für diesen sehr besonderen Blog!

  5. Oft neigt die Liebe ins verhätscheln und verwöhnen zu kippen, das stimmt schon, auch wir erkennen das in unserem Wechselmodell und machen uns Gedanken, wie wir ruhig und unaufgeregt die Wechsel begleiten können. Ich finde deinen Beitrag dazu sehr wichtig, da man sonst nicht über dieses Thema der Schwierigkeiten beim Wechsel spricht. Grüße Dein Fan Barbara

    P.S.danke dass du wieder schreibst!

  6. So berührend und ehrlich, deine Worte packen mich immer wieder, liebe Wechselmama. Ich kenne dich vom Pendelkinder Interview und ich freue mich immer hier von dir zu lesen. Danke

    1. Lieber Josef, klasse. Dann bist du ja schon richtig lange dabei. Das Interview mit Verena von den Pendelkindern war schon ein sehr Besonderes! Alles Liebe, Mareike

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert