Spüre ich das nur, oder geht da gerade ein Zucken durch die Gesellschaft?

Vom klassischen Familienmodell, neuen Lebensformen und einprogrammierten Denkmustern.

Frühling auf St. Pauli, ich sitze in der Küche meines Ex-Mannes. Ich bin gern da, viele Jahre wohnten wir hier zusammen. Kaum betrete ich die Wohnung, zucken vergangene Reflexe auf: der Mülleimer wird im Vorbeigehen geschlossen, auf halber Höhe des Flurs erfolgt ein extragroßer Schritt über die Diele hinweg.

Einprogrammierte Bewegungsmuster, die unbewusst aktiv werden, sobald man die altvertraute Umgebung zur Verfügung stellt.

Mit seiner neuen Kapselmaschine macht uns mein Ex-Mann Espresso. Ich erzähle von dem Einen. Sie mögen sich gern, der Eine und er, manchmal gehen wir essen, manchmal gehen wir aus.

Mein Ex-Mann erzählt mir, dass er sich nun Kinder wünscht. Er sagt, wenn es passiert, würde er sich freuen. In diesem Moment, sagt er, hat eine feste Partnerschaft für ihn nicht oberste Priorität. Wir lachen ein bisschen, weil Kinder in unserer Zeit keine Priorität hatten. Wir hatten Zwergkaninchen.

Noch weiß er nicht, dass er sich wieder verlieben wird, kaum dass der Sommer vorbei ist. Noch weiß das nur ich, die allwissende Erzählerin aus der Zukunft.

Ist das neu oder habe ich es nur verpasst?

Vielleicht liegt es daran, dass ich erst seit einiger Zeit meinen Kopf wieder aus dem sozialen Fenster strecke. Jahrelang war ich verschluckt von dem Trennungsstrudel, hielt alles gerade so notdürftig am Laufen, den Kopf nur eine Handbreit über Wasser, ich versuchte mit letzten Kräften, dem kleinen Moglimann einen unbelasteten Alltag zu ermöglichen. Für einen Blick auf das Leben da draußen reichten meine Kraftreserven aber nicht aus.
Kommt es mir also nur so vor, dass ich gerade jetzt, kaum zurückgekehrt ins reale Leben, so vielen Menschen begegne, die ein von gelernten Normen befreites, offenes Lebensbild einer Familie anstreben? Kann es sein, dass mir das alles nur entgangen ist und die Gesellschaft schon viel weiter ist, vielleicht auch schon außerhalb der Metropolen?

Neue Lebensformen

Zwei Freundinnen von mir leben mit ihrer Tochter als sogenannte Regenbogenfamilie. 2010 kauften sie einen Bauernhof und zogen aufs Land hinaus. Es wurde ein Desaster, nach einem Jahr flüchteten sie in den weltoffenen Prenzlauer Berg zurück. Dass man sie beide kritisch beäugte, damit konnten sie umgehen. Aber dass ihre Tochter in der Kita ausgegrenzt und nicht nur von einigen Kitaeltern, sondern auch den Erziehern offen angefeindet wurde, damit konnten sie nicht länger leben. In einigen Monaten werden sie diesen Schritt erneut wagen. Sie denken, mittlerweile ist die Gesellschaft toleranter geworden, auch dort, wo die Strassenbeleuchtung um 22 Uhr ausgeknipst wird. Und nicht zuletzt, weil die Tochter selbst diesen Wunsch äußerte.

Ein Freund von mir ist homosexuell und er wünscht sich seit einiger Zeit ein Kind. Zusammen mit einer langjährigen Freundin haben die beiden beschlossen, Eltern zu werden. Sogenanntes Co-Parenting, man hat ein Kind, verschiedene Wohnungen, ist als Partner Eltern und nicht Liebespaar.

Der Pionier

Der Berliner Jochen König ist für mich ein Pionier: er hat zwei Kinder mit drei Mamas und schreibt darüber seit Jahren. Über die Freuden, aber auch die Hindernisse in seinem Alltag berichtet er mit solch liebevoller Nüchternheit, dass es mich immer wieder berührt.

Die autarke Frau im Bekanntenkreis – nur Zufall oder gibt es das jetzt öfters?

Meine Freundin aus Köln erzählte, dass sie in letzter Zeit vermehrt Frauen kennenlernt, die sich ganz bewusst dazu entscheiden, Mama zu werden. Das Kind und der Wunsch, nun eine kleine Familie zu gründen steht im Vordergrund, noch vor einer langjährigen Beziehung. Diese Frauen entscheiden sich bewusst dafür, ein Kind zu bekommen, weil sie mehr Freude am ungeborenen Leben haben als Angst vorm Risiko, ihre Kinder später eventuell alleine groß zu ziehen. Alles Frauen, Mitte Dreißig oder älter, beruflich komplett autark und jederzeit bereit, volle Verantwortung für ihr Tun und Handeln zu übernehmen.

Die Autorin Christina Mundlos hat darüber auch in Ihrem Buch: „Dann mache ich es halt allein“ geschrieben.

Liegt es nur an der vielbeschworenen Uhr, die bei der aktuell wieder steigenden Anzahl an Spätgebärenden extralaut tickt, oder geht hier tatsächlich ein Zucken durch die Gesellschaft?

Ist das Familienmodell nicht total wurscht?

Ist es möglich, dass sich immer mehr Menschen aus der Sehnsucht heraus, einem kleinen Menschen Geborgenheit und Liebe zu schenken von dem klassischen Familienmodell lösen – weil sie es selbst nicht erfüllen können, nicht erfüllen möchten oder weil sie es endlich einfach machen können?

Egal ob dieses Kind dann von zwei Vätern, einer Mutter oder einer Großraum-WG aufgezogen wird. Was macht das klassische Familienmodell aus Mama und Papa so viel besser als die anderen, dass es diese nicht gleichzusetzen gilt?

Muten wir den Kindern zuviel zu?

Trotzdem: muten wir Nicht-Klassischen unseren Kindern noch zu viel zu, wenn wir sie diesen neuen Lebensbedingungen aussetzen? Sind wir egoistisch, wenn wir neue Formen ausprobieren, die uns mehr Freiheit geben und dadurch unser individuelles Glück kreieren können? Können unsere Kinder negative Reaktionen des Umfelds aushalten, weil sie so sehr gewollt wurden, dass sie über ein großes Selbstvertrauen verfügen und den Glauben innehaben, dass sie genauso wie sie sind richtig sind?

Einem Glauben, der die Macht hat, altgelernte Denkmuster neu zu programmieren? Muss ich nur oft genug meinen Ex-Mann besuchen, bis mein Gehirn verstanden hat, dass die Diele im Flur seit sechs Jahren repariert ist?

Der Fluch der ersten Generationen

Ich befürchte, es gehört zum Fluch der ersten Generationen, dass zum Anfang hin oft Unverständnis und Argwohn stehen. Wo Kinder freudig staunen, bilden sich bei den Erwachsenen oft Verwunderung und im schlimmsten Fall danach Abneigung. Um Schranken im Kopf zu öffnen, um Denkmuster zu überschreiben, um mehr Toleranz zu generieren, funktioniert es wohl oft erstmal nur so, über den Weg der Ausgrenzung. Damit anschließend ein Bewusstsein hierfür und später die Gegenbewegung einsetzen kann. Und auf die folgt im besten Fall irgendwann Akzeptanz und Normalität. Aber vielleicht haben sich die ersten Generationen endlich abgearbeitet und machen gerade Platz für die neuen Generationen, die es dann ein bisschen einfacher haben.

Neulich sagte Mogli vor dem einschlafen: “Mama, ist das nicht toll? Meine Familie sind vier. Mama, ich, der Eine und Papa. Einer mehr als bei den anderen.“ Ja, so kann man es sehen. Und ich hoffe, es sehen immer mehr so.

Bild: rawpixel / Unsplash
Text: Mareike Milde

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