Buchtipp: UNSER KIND HAT ZWEI ZUHAUSE

Eine längst überfällige Rezension

Lange bin ich um den Sachbuchratgeber: „UNSER KIND HAT ZWEI ZUHAUSE“, ein Erfahrungsbericht nach 9 Jahren Wechselmodell, herumgeschlichen. Als mich der Verlag im letzten Jahr anschrieb und mir diesen Titel zur Rezension vorstellte, stimmte ich zwar einer Zusendung zu. Als es in meiner Post lag, legte ich es jedoch erst einmal beiseite.

Manche Dinge fallen mir immer noch schwer.

Obwohl sich bei uns über die Jahre so vieles geklärt hat, so vieles beruhigt, die schlimmsten Streitigkeiten so lange vorbei sind – ich traute mich nicht an diese Lektüre heran.

Denn auch heute noch fällt es mir um vieles leichter, mich mit Geschichten und Sorgen von Trennungsfamilien zu beschäftigen, die noch mitten im Streit taumeln, die noch keinen einvernehmlichen Lichtblick am Himmel für Ihre Konversation gefunden haben. Die immer noch strudeln und vor schier unlösbaren Problemen stehen. Die verzweifelt sind, ratlos und auch ein Stück weit hoffnungslos.

Weil ich mich immer noch in Ihnen wiederfinde, weil ich den Schmerz nachspüren kann. Weil ich den Schmerz selbst erlebt habe. Und weil ich genau einzuschätzen weiß, wie weit der Weg noch sein kann, wo deren Reise wohl hinführt. Wie einen die Wut und Verzweiflung und all der dunkle, ungewisse Kummer überfällt, wenn mögliche Deeskalationsstufen mal wieder krachend gescheitert sind.

Auch weil ich mich hier ein Stückweit als Rolemodel sehe, dies ist schließlich mein Terrain, dies ist meine Spielwiese. Nach all den Jahren Mama und einigen Jahren Wechselmama scheine ich all die dunklen Mechanismen und Tiefen zu kennen, in die man in eine Trennung mit Kind hineinstrudeln kann, wofür man gewappnet sein muss. So war es schon immer. Besteht ein Zustand bereits, kann ich mich ihm gut annehmen, ihn analysieren, anpassen und nachhaltig optimieren – hingegen aus dem Nichts etwas Visionäres zu kreieren ist nicht so mein Ding.

Ich bin der Managertyp, nicht der Visionär.

Nicht so die beiden Autoren Milena Mergel und Thomas Baum. Sie haben es geschafft, aus einem Nichts etwas sehr Besonderes, Wertschätzendes, Eigenes zu kreieren. Ohne Gerichtskämpfe und anderweitige Hilfe von außen, mit Wertschätzung füreinander, Verständnis für das neue andere Leben unter stetigem Kontakt und Absprachen – all das einfach aus sich selbst heraus.

Während der schwierigen Zeit der Trennung mit all ihren Enttäuschungen, der Wut und auch der Trauer ein beständiges Wechselmodell zu kreieren, bei dem die Wünsche jedes Einzelnen nach Lebensglück, Selbstständigkeit und (finanzieller) Unabhängigkeit, aber auch weiterhin einem Familienmodell bestehen kann, ist eine enorme Leistung. Und ganz zum Schluß, für mich der schwierigste Punkt, aus diesem Trennungskonstrukt sogar eine Freundschaft aufzubauen.

Genau dieser Anlass hat mich dem Buch sehr skeptisch gegenübertreten lassen, tatsächlich mit einer gewissen Abwehr.

Ich wollte keine Schönwetterberichte lesen über eine Trennung,

die nun mal nicht Schönwetter ist, sein kann, trotz allem Respekt und Achtsamkeit. Ein Teil in mir braucht wohl immer die Wut, das Unverständnis, die Hilflosigkeit und auch die Abwehr dem anderen Elternteil gegenüber, um diesen Neuzustand als solchen wahrzunehmen und daraus etwas zu erschaffen.

Tatsächlich haben die beiden Autoren es geschafft, mir diese Angst zu nehmen. Beide Eltern schreiben abwechselnd (POV) über die wesentliche Meilensteine der Trennung in umgangssprachlich lockerer, trotzdem sachlicher Weise. Die Tonalität ist persönlich und ein manches Mal fast intim, der Leser wird direkt einbezogen, Schlüsselerlebnisse und Gesprächssituationen werden sehr anschaulich dargestellt. Auch die Tochter kommt zu Wort. Als roter Faden zieht sich durch das gesamte Buch der tiefe Respekt vor dem jeweils anderen Partner als natürlich auch dem Kind, bei allen Meinungsverschiedenheiten, bei allen Widrigkeiten unter den Erwachsenen.

Hier wird sehr gut aufgezeigt, wie ein Kind im Geflecht zweier Berufstätiger und einer umsichtigen Trennung aufwachsen kann und wie gemeinsame Vorhaben, zB. das sonntägliche Frühstück mit beiden Eltern und auch neuen Partnern, dafür sorgen kann, dass das Gefühl Familie bestehen bleibt. Im gleichberechtigten Mit- und Füreinander und mit einem Kind, welches das Wechselmodell als so normal und selbstverständlich ansieht, dass es das Herz hüpfen lässt.

Das Verständnis, welches die Eltern neben den Angelegenheiten der Tochter auch immer wieder für sich selbst, bspw. die Lebenssituation des jeweils anderen aufbringen wollen und wie sie darüber sprechen, berührt. Auch das hierbei oft erwähnte „loslassen“ und einfach mal „nicht kommentieren“ – manchmal muss man Dinge nicht zu Ende ausdiskutieren. Muss sie nicht bis zum Schluß besprechen. Manchmal muss man nicht recht haben, sondern einfach nur einen Konsens finden, der für alle Erwachsenen einigermaßen erträglich ist. Das ist so im Wechselmodell. Genau wie in intakten Familien.

Alles auch immer im Bewusstsein, dass es sich bei allen Absprachen, Übereinkünften und auch Unstimmigkeiten immer nur um einen vorübergehenden Zustand handelt, der in einigen Wochen, Monaten, Jahren schon wieder ganz anders aussehen kann.

Und so schaffte es dieses Buch, dass ich doch nochmal abgeholt wurde

..und zwar in Bezug auf die Vereinbarkeit und eine Idee, wie es hätte gelingen können, wenn man nicht mit dem Kopf durch die Wand getobt wäre, sondern die Puste gehabt hätte, besonnener an all die Thematiken heranzugehen.

Eine klare Kaufempfehlung für alle Familien, Getrennte, egal ob in intakten Verhältnissen, Residenz- oder Wechselmodell

Ganz einfach weil das Sehen und Wahrnehmen der Wünsche des Anderen nichts ist, was es nur im Wechselmodell geben sollte. Sondern in jeder Familienform mit Kindern. Weil Kompromisse in einem gut funktionierendem sozialen Leben dazugehören, gelebt werden müssen, egal wie individuell jeder Einzelne ist. Weil eine gleichberechtigte, unabhängige Lebensgestaltung nicht nur in der Erziehung gelingen sollte, sondern in so vielen anderen Dingen auch.

Dank der gut durchdachten Themengruppierung im Glossar muss dieses Buch nicht von vorne bis hinten gelesen werden, sondern eignet sich dank der Themengruppierung (Vor der Trennung – Während – Danach) auch zum pointierten nachschlagen.

Unser Kind hat zwei Zuhause“ ist der erste Ratgeber von betroffenen Eltern zum Wechselmodell, der sowohl die Vater- als auch die Muttersicht darstellt und um Wahrnehmungen des Kindes ergänzt.

Ein heilsamer, wichtiger Prozess des Lesens für mich, selbst nach all den Jahren. Wie überraschend, und doch so einfach.

Bild: UNSER KIND HAT ZWEI ZUHAUSE I KOMPLETTMEDIA Verlag,
22,00 Euro (D) I ISBN 978-3-8312-0585-
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Text: Mareike Milde

Danke an den KOMPLETTMEDIA Verlag für die Zusendung des Freiexemplars. Dieses wurde nicht davon abhängig gemacht, wie meine Rezension ausfällt und wurde auch nicht bezahlt.

Anmerkung: Ich arbeite mit Affilitate Links. Der Kaufpreis bleibt für Euch derselbe, ich erhalte zusätzlich eine kleine Provision. Damit helft Ihr, Wechselmama zu finanzieren. Ich danke Euch! ❤️

10 Replies to “Buchtipp: UNSER KIND HAT ZWEI ZUHAUSE”

  1. Sehr gute Rezension, vielen Dank! Also nicht nur in Bezug auf das Buch, sondern in Bezug auf die eigene Skepsis und Herangehensweise, kann ich total nachvollziehen. Mir ging es kurz nach der Trennung sehr ähnlich während der Suche nach guten Büchern zu dem Thema und mir wurde eins empfohlen, welches ich als ähnlich gut empfinde: die Perspektiven aller (inkl. neue Parthner*innen) einschließend, angenehm pragmatisch, realistisch, mit viel Rücksicht auf die Grenzen und schwachen momente der Lesenden. Blöde Frage: darf ich Titel und Autorin hier posten?

    1. Liebe Jule, danke für deinen Kommentar und toll, dass du ein Buch gefunden hast, welches dir gut gefiel! Sehr gerne posten : ) Herzlichst, Mareike

        1. Danke liebe Jule – Marianne Nolde ist auch meine Favoritin unter den Trennungsbuchautoren. Toll, dass es dir hier auch geholfen hat! Herzlichst, deine Mareike

  2. Liebe Mareike Milde,

    ich möchte mich für die sehr schöne Rezension unseres Buches bedanken.
    Ich war sehr berührt von Ihren eingangs geschilderten Gedanken. Die vorhandene Skepsis kann ich total nachvollziehen.

    Umso mehr weiß ich zu schätzen wie Sie unser Buch dann anschließend beschrieben haben.
    Mir kamen fast die Tränen, als ich das gelesen habe.

    Vielen Dank dafür!

    Herzliche Grüße
    Thomas Baum

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